Annette war eine kompromisslose Künstlerin von existenzieller Tiefe und Radikalität, und eine inspirierende Freundin.
Mit ephemeren und billigen Materialien stellte sie Objekte her, die ein Spannungsverhältnis zu gesellschaftspolitischen, erkenntnistheoretischen und künstlerischen Großfragen produzieren. Sie bearbeitete das Geld, die Religion, Gehirne, das Denken, die Stadt, den Staat, das Fernsehen, die Sprache. Von Beginn an legte sich Ihr Werk mit der Welt an.
Ich traf Annette erstmals Mitte der Achtzigerjahre auf den Stufen der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Eben hatte ich meine Bewerbungsmappe abgegeben, da kam sie mir mit ihrem Exemplar entgegen - und das ist riesig, wahrscheinlich die größte Mappe, die je an der HfbK abgegeben wurde. Ein selbstgezimmerten Monstrum, das man unmöglich allein bewegen kann, mit dem Annette gleich mehrere Dinge auf einmal klar macht: sie hatte nicht vor, sich in ihrer künstlerischen Arbeit an institutionelle Vorgaben zu halten. Darüber hinaus war Kunst für sie eine Wunschmaschine, die den engen Rahmen der Kunst sprengt und die Regeln der Naturgesetze, die Schwerkraft zum Beispiel, ignoriert oder ausser Kraft setzt.Zusammen brachten wir die Mappe ins Bewerbungsbüro - und trafen uns ein paar Monate später in der Grundklasse wieder. Umgehend entwickelte Annette eine ganz eigene Bildsprache: Aus Hobelspänen formte sie ein gigantisches Gehirn, das auf den ersten Blick aussah wie ein zusammengefegter Haufen, in dem sich beim näheren Hinsehen armdicke Gehirnwindungen vor der Instrumentalisierung der Intelligenz verbergen. Über ein halbes Jahr bearbeitete und durchbohrte sie ein große Holzscheibe, versah sie dann mit einer Stickerei aus tausend feinen Nähfäden.
Was sich in dieser Gebetsmühle aus brutalst maltretiertem Brett mit zarter Stickerei ankündigte, war eine Dialektik aus trickreichem Mechanikeinsatz und Wundererzeugung, die sich durch viele ihrer Arbeiten zieht. Ein paar Jahre später verspottete sie die Schwerkraft mit einer wassergefüllten, stecknadelbespickten Einkaufstüte - ihr erstes, wie sie selbst sagt, "gültges Werk". Aus dem märchenhafterweise kein Tropfen drang.
Sie baute utopische Architekturen - "UFOs" - aus Klebeband, Plastik, Holzstückchen, Science Fiction Romanen (shedhalle und Kunstverein Wolfsburg); sie mauerte Backsteine zu rollenden Kugeln und spielte damit Fußball; sie schaffte ihre eigene Währung "DSB-Seifenbeton" und ging damit einkaufen; sie organisierte eine Ausstellung (u.a. mit Alice Creischer, Andreas Siekmann und Linda Bilda) in Pavillions in Hamburgs Wallanlagen - der dadurch, zu der Zeit in weiten Teilen gesperrt, zu einer temporären fürstlichen Anlage Annettes wird; eine Siebzigerjahreskulptur auf Hamburgs erstem privatisierten Platz, dem Fleetmarkt, direkt im Fluchtpunkt der von Albert Speer gezogenen Achse zur Alster platziert, umbaute sie mit einem Bretterverschlag - und richtete darin eine Flohmarktverwaltung ein; für die Bundesgartenschau 2001 in Potsdam transformierte sie einen sowjetischen Militärwachturm in einen barocken Spiegelpavillon.
Im Rahmen der Skulpturprojekte in Münster sperrte sie 2007 das bei Spaziergängern und Radlern beliebte Ufer, um dort eine anspielungsreiche Baustelle einzurichten, das "Aaspa". Auf selten verstandene Weise verwob sie hier die Privatisierung des öffentlichen Raums (und des Glücks) mit einer Geschichte der utopischen Architektur und der Earth-Art: Richard Long wurde in einem Erdkreis fast wörtlich zitiert. Während die aufgeklärten Besucher_innen die negative Geste der Sperrung des Ufers noch zu lesen wußten, stießen die handgemalten Baustellenschilder der Künstlerin in fortschrittlichen Kunstkreisen auf Unverständnis: Man erwartete die unverfängliche Bildsprache des Fakes - und so entging vielen eine andere , tiefere Ebene dieser Arbeit, die von den Bedingungen des Glücks spricht.
Denn die Malerei auf dem "Baustellenschild" zitierte (neben deutlichen Referenzen an Mario Merz und utopische Architektur) den "Jungbrunnen" von Lucas Cranach, und, ganz deutlich, den abgefahrenen "Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch - und sprach damit von den strukturellen Bedingungen und tiefen Sehnsüchten der "wellness", vom langen Weg des Glücksversprechens durch eine befreite Lust, zur Heruntergekommenheit der marktgeregelten Regulierung der Lüste. Das Versprechen eines kollektiven Ortes des leiblichen Glücks, Baustelle eines besseren Lebens - hinter Bauzäunen eingesperrt. Damit sprach Aaspa etwas Exstenzelles an, auf berührende Weise, und zeigte es trotzdem als etwas gesellschaftlich Produziertes.
Im Rückblick denkt man natürlich, das Aaspa auch von ihrer persönlichen Situation sprach: In den letzten Jahren ging es ihr gesundheitlich immer schlechter, Annette war zerrissen von Krankheiten, die einhergingen mit Zwängen, Regelmäßigkeiten und Erschöpfungszuständen. Es wurde ihr immer schwerer, den Zumutungen des Alltags mit der von ihr als angemessen empfundenen souveränen Rigorosität zu begegnen, sich - mit schroffem Esprit und listigem Humor - aus der Kunst heraus neu zu erfinden.
Wir verlieren eine Gesprächspartnerin, die Erkenntnisse gleichermaßen aus Philosophie wie aus Schundlektüre ziehen konnte. Zahlreiche Kollegen und Kolleginnen wurden von Annettes Arbeiten inspiriert und beeinflusst, manche haben bei ihr geklaut. Sie schrieb Texte auf Luftschlangen, auf Smarties, machte Performances - eine dauerte zwei Wochen am Stück.
Die Blumenrabatten, mit denen die bürgerliche Gesellschaft die Fallen tarnt, zu denen ihre Städte geworden sind, sprengte sie kurzerhand in die Luft. Die Fotos davon hängen heute im Ludwig Forum in Aachen, gegenüber einer der besten Serien von Martin Kippenberger, dessen Arbeit sie mochte. "Nieder mit dem Idealismus" heisst die Serie, und Annette Wehrmanns Blumensprengungen halten mühelos stand. Eine Dialektik aus Zärtlichkeit und Brutalität, aus Poesie und Banalität, aus feiner Intelligenz und provozierender Dummheit, aus billigsten Materialien und majestätischer Geste durchzieht ihre Arbeit und ihr Leben.
Annette wurde mitten aus den Vorbereitungen für eine Ausstellung des Essener Folkwangmuseums gerissen. Sie war erst 48 Jahre alt. Was für ein Verlust. Annette war - wie eine ihrer Serien hieß - auf der Suche nach den "Orten des Gegen". Ob sie diesen Ort für sich je gefunden hat, wissen wir nicht. Aber sie hat einen solchen Ort für andere denkbar gemacht.
Christoph Schäfer, Hamburg, 1. Juni 2010, veröffentlicht in: Springerin, Heft 3, 2010